Gedanken zu den langersehnten Möglichkeiten
Anfang Juni schaute ich mir die neuen Freiheiten an, die Dank der gesunkenen Inzidenzen wieder möglich waren. Doch irgendwie mischte sich Unsicherheit in die Freude. Ist es wirklich in Ordnung und wieder vertretbar, dass wir uns in größerer Zahl treffen und sogar miteinander singen? Nach 15 Monaten Pandemie, Abstand usw. fühlt sich die neue alte Freiheit ungewohnt, fast schon irgendwie bedrohlich an. Was können und dürfen wir wieder? Dürfen wir das wirklich wieder? Die Unsicherheit lässt sich nicht einfach wegwischen. Durch diese Gedanken kreuzen mir Worte von Paulus:
Brüder und Schwestern, ihr seid zur Freiheit berufen!
Galater 5,13
Aber benutzt eure Freiheit nicht als einen Vorwand,
um eurer menschlichen Natur zu folgen.
Dient euch viel mehr gegenseitig in Liebe.
Wir sind zur Freiheit berufen! Doch irgendwie fühlt es sich gerade an, wie bei einem Vogel im Käfig. Die Tür ist geöffnet, aber der Vogel bleibt drin sitzen. Mir scheint, Freiheit muss ich annehmen und einüben. Irgendwie hat sich da was eingeschlichen mit der Zeit, ein Unbehagen bei größeren Menschenansammlungen oder bei zu viel Nähe. Die Maßnahmen der vergangenen Monate haben Spuren hinterlassen. Das enge Korsett an Regeln hat Sicherheit versprochen und jetzt ist dieses Korsett weg. Wenn ein Korsett am Körper entfernt wird, muss sich die Muskulatur erst wieder neu ausbilden damit der Körper wieder Stabilität bekommt.
Das gilt genauso für unseren Glauben. Ich kann einen engen Käfig von Gottesvorstellungen oder von Gottes Wirken haben und mich daran festhalten. Ich weiß, was mal funktionierte, um Gott zu be-gegnen, Menschen das Evangelium zu bringen – heute aber ist das wie ein Käfig, an dem ich mich festhalte und aus dem ich mich nicht heraus traue.
Doch Gott will uns in die Freiheit führen, nicht auf Regeln, Gesetzmäßigkeiten oder Erfahrungen zu bauen, sondern auf sein Wirken, seine Wegführung, sowie seine Gnade und Barmherzigkeit. Eine Erfahrung, die mal funktionierte, muss heute nicht zwingend auch so funktionieren. Eine Erfahrung, die mal nicht funktionierte, kann heute plötzlich funktionieren. Dazu muss ich aber die Freiheit haben, etwas zu wagen, muss frei sein in meinen Gedanken, frei werden von den negativen Erfahrungen der Vergangenheit oder von gedanklichen Zwängen. Wie viel Gebet braucht es bis zu einer Entscheidung? Und wie viel Mut, einen ungewöhnlichen, ungewohnten Schritt zu gehen? Petrus wagt den Schritt aufs Wasser, weil er meint, dass Jesus ihn ruft. Die 11 anderen Jünger bleiben im Boot, weil sie wissen, dass Wasser nicht trägt. Und Petrus? Er geht ein paar Schritte auf dem Wasser mit dem Blick auf Jesus gerichtet. Erst als er seine Situation mit menschlichen Augen wahrnimmt, als er die Wellen sieht und sich überlegt, wo er steht, da sinkt er.
Ihr seid zur Freiheit berufen – einer Freiheit, Jesus zu folgen, zu und mit ihm unterwegs zu sein und sich auf seinen Weg einzulassen. In dieser Freiheit sollen wir einander in Liebe dienen. Auf diese Weise werden wir Wegbegleiter in die Freiheit. Nicht Rufer in die Freiheit, sondern Begleiter, Versteher, Zuhörer, Ermutiger, Hilfesteller und das alles mit Liebe und Geduld.
Zur Freiheit berufen, einander zu dienen – was für ein eigenartiger Gedanke. Ja, es braucht Freiheit, mir meiner Bedürfnisse, Wünsche und (vielleicht sogar berechtigten) Ansprüche bewusst zu werden und dann die innere Freiheit zu haben, die Bedürfnisse, Wünsche und Ansprüche meines Gegenübers wahrzunehmen und ihm zu dienen. Dienen in Liebe, das bedeutet auch uneigennützig zu dienen, frei zu sein von der unbedingten Erwartung, dass sich dadurch etwas verändern muss bei meinem Gegenüber. Dient gegenseitig kann auch bedeuten, mir dienen zu lassen! Da stellt sich mir die Frage: Bin ich innerlich frei, mich beschenken zu lassen von meinen Glaubensgeschwistern oder anderen Menschen? Bin ich frei, mal nicht selbst zu machen, vielleicht sogar abhängig zu sein? Auch dafür braucht es Freiheit.
Wenn ich spüre, dass ich hier und da innerlich unfrei bin, darf ich Gott darum bitten, mich aus meinem Käfig zu begleiten. Jetzt, drei Wochen in der wiedererlangten Freiheit wächst die Dankbarkeit und schwindet die Sorge. Ich lasse mich wieder gern auf Begegnungen in großer Runde eine und lerne ganz neu, auch im Glauben frei Jesus zu folgen. Ich bin zur Freiheit berufen. Ich bin frei, Kind Gottes zu sein. Deshalb lerne ich vertrauend zu leben, zu
dienen und mir selbst Gutes tun zu lassen.
Pastor Andreas Neef
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